„The future of European competitiveness”
Bericht von Mario Draghi
Am 9. September hat der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi seinen lang erwarteten und von Ursula von der Leyen beauftragten Bericht zur Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit Europas präsentiert. Der Report besteht aus einem 69-seitigen strategischen Teil sowie einer 328-seitigen Analyse. Er wird als wegweisender Bericht für die wirtschaftspolitische Ausrichtung der nächsten Kommission von der Leyen II angesehen und enthält zahlreiche Ideen und Vorschläge, die in ihrem Umfang und ihrer Ausrichtung mancherortsneues politisches Terrain betreten und in Brüssel sowie in den 27 Hauptstädten eingehend erörtert und diskutiert werden.
Mario Draghi identifiziert drei wesentliche Hemmnisse, die Europa davon abhalten international wettbewerbsfähig zu sein. Dazu zählt erstens der Mangel an entschlossener Fokussierung und gemeinsamen Prioritäten. Er kritisiert, dass die Anstrengungen im Bereich Bürokratieabbau nicht ausreichen und vor allem KMUs zu jenen zählen, die darunter am meisten leiden. Darüber hinaus wünscht er sich, die Fragmentierung des europäischen Binnenmarktes zu beenden. Damit meint er insbesondere die Vollendung der Kapitalmarktunion, ohne diese innovative Wachstumsunternehmen weiterhin den Sprung über den Großen Teich bevorzugen und europäischer Haushalte ihre Ersparnisse nicht so effektiv anlegen können wie jene in den USA.
Der zweite Hebel betrifft die gemeinsamen Ressourcen, die laut Draghi verschwendet werden. Darunter versteht er Europas kollektive Kaufkraft (spending power), die durch zahlreiche unterschiedliche nationale und EU-weite Instrumente verwässert wird. Als Beispiele führt er die militärische Beschaffung und Forschungsausgaben an. In beiden Bereichen wird viel zu wenig auf Synergien gesetzt, was zu erheblichen Reibungsverlusten führt.
Und drittens koordiniert sich Europa nicht dort, wo es wirklich darauf ankommt. Er verortet das Fehlen einer kongruenten industriepolitischen Strategie, die alle flankierenden Politikfelder miteinander in Einklang bringt, wie etwa die Finanz- oder Außenpolitik. Vor dem Hintergrund einer zunehmend feindseligen und komplexen Weltordnung bemängelt er die Reaktionsfähigkeit der EU und kritisiert, dass neue Gesetzesvorschläge im Durchschnitt 19 Monate benötigen, um final angenommen zu werden.
Aus diesen drei Hemmnissen schlussfolgert Italiens Ex-Premier, dass es viel mehr und viel koordinierte Investitionen benötigt. Da der private Sektor die notwendigen Mittel allerdings nicht ausreichend aufbringen kann, braucht es die öffentliche Hand, die ihn dabei substanziell unterstützt. Der dafür benötigte größere finanzielle Spielraum steht allerdings nur dann zur Verfügung, wenn Unternehmen mithilfe besserer Rahmenbedingungen dazu in die Lage gesetzt werden, ihre Produktivität langfristig zu steigern, so Draghi. Zur Produktivitätssteigerung brauche es einerseits eine vollendete Kapitalmarktunion und andererseits beträchtliche gemeinsame Investitionen in europäische öffentliche Güter, die Draghi vor allem in technologischen Zukunftssektoren und im Verteidigungsbereich verortet. Konkret identifiziert Draghi zehn Wirtschaftssektoren, die für die Erlangung der Ziele eine wichtige Rolle spielen, darunter kritische Rohstoffe, künstliche Intelligenz oder energieintensive Industrien. Für jeden einzelnen dieser Sektoren schlägt er mehrere kurz,- mittel- und langfristige Maßnahmen vor.
Links zum Bericht und zur Analyse:
Um seine industrielle Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und seine (Klima-)Ziele zu erreichen, muss Europa eine nach Industrien/ Sektoren differenzierte Strategie fahren. Er unterscheidet dabei grob in 4 Kategorien:
- Branchen, in denen Europas Kostennachteil zu groß ist, um ein ernsthafter Konkurrent zu sein. Selbst wenn die EU aufgrund ausländischer Subventionen an Boden verloren hat, ist es wirtschaftlich sinnvoll, die erforderliche Technologie zu importieren und die Kosten von ausländischen Steuerzahlern tragen zu lassen, während gleichzeitig die Lieferanten so weit wie möglich diversifiziert werden, um Abhängigkeiten zu begrenzen.
- Branchen, in denen die EU darauf bedacht ist, wo die Produktion stattfindet – um Arbeitsplätze vor unlauterem Wettbewerb zu schützen –, aber keine Rücksicht darauf nimmt, woher die zugrunde liegende Technologie stammt. In diesem Fall wäre ein wirksamer Politikmix, ausländische Direktinvestitionen zu fördern und gleichzeitig Handelsmaßnahmen einzusetzen, um den durch ausländische Subventionen erzielten Kostenvorteil auszugleichen.
- Branchen, in denen die EU ein strategisches Interesse daran hat, dass europäische Unternehmen relevantes Know-how und Fertigungskapazitäten behalten, damit die Produktion im Falle geopolitischer Spannungen hochgefahren werden kann. Hier sollte die EU darauf abzielen, die langfristige „Bankfähigkeit“ neuer Investitionen in Europa zu erhöhen, beispielsweise durch die Anwendung von Anforderungen an den lokalen Produktionsanteil, und ein Mindestmaß an technologischer Souveränität sicherzustellen. Letzteres kann erreicht werden, indem ausländische Unternehmen, die in Europa produzieren wollen, verpflichtet werden, Joint Ventures mit lokalen Unternehmen einzugehen.
- „Junge Branchen“, in denen die EU einen Innovationsvorsprung hat und ein hohes zukünftiges Wachstumspotenzial sieht. In diesem Fall gibt es ein bewährtes „Playbook“, bei dem eine ganze Reihe handelsverzerrender Maßnahmen angewendet werden, bis die Branche eine ausreichende Größe erreicht hat und die Schutzmaßnahmen aufgehoben werden können.